Fatimes Lebensgeschichte

Vahit Tursun
07.04.2014 Athen / Griechenland

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Umgebung war noch nicht hell. Es war bereits abzusehen, dass der Tag sehr heiß werden würde. Fadime war wie jeden Morgen früh aufgestanden und hatte die Rinder mit Futter und Wasser versorgt. Während sie auf ihre Freunde wartete, um Gras zu sammeln, legte sie sich auf die Peyke (eine lange, bankähnliche Holzbank) und stützte den Kopf auf ein Kissen. Seit Tagen hatte sie keine Zeit gehabt, sich auszuruhen und einmal durchzuatmen, und deshalb hatte sich in ihrem Körper eine nie endende Müdigkeit angesammelt. Selbst wenn sie tagelang schlafen würde, hätte sie danach noch mehr schlafen wollen. Nicht einmal zwei Minuten waren vergangen, da fielen ihre Augenlider zu.

Gerade als sie in einen tiefen Schlaf versinken wollte, wurde an die Tür geklopft. Im Schlafesrausch, aber als würde sie durch ein Erdbeben geweckt, stand sie auf, ging zur Tür und öffnete sie. Es war Emine. Zusammen mit ein paar Freundinnen wollten sie kilometerweit entfernt in den unwegsamen Wald gehen, um Gras zu sammeln.

Das Wetter war in jenem Jahr gut gewesen. Nachdem die Dorfbewohner ihre Wiesen gemäht hatten, hatten sie auch das Gras auf der Weide geschnitten und gesammelt. Dennoch reichte das Gras nicht aus, und der Merek (Struktur zur Lagerung von Heu) war nicht einmal voll. Nun mussten sie weit entfernte, schwer zugängliche Orte aufsuchen. Fadime nahm sofort das Seil, ihren Panofori (einen dicken Mantel, der als Polster unter Lasten getragen wird), ihre Sichel und ihre Dapana (Proviant für den Tag), zog ihre schwarzen Gummistiefel an und folgte ihrer Freundin. Die anderen warteten bereits ein Stück weiter auf sie. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.

Unterwegs unterhielten sie sich, manchmal lachend und spielend, manchmal scherzend, bis sie den gegenüberliegenden Hang erreichten. Sie stiegen vom Weg ab, hielten sich aneinander fest und überquerten einen knietiefen Bach mit reißender Strömung. Danach begann die akrobatische Arbeit, das Gras an schwierigen Stellen zu schneiden und zu sammeln. Auf dem sehr steilen und unebenen Gelände begannen sie, durch Kiefern und Sträucher zu klettern. Manchmal rutschten Felsen unter ihren Füßen weg und rollten hüpfend und springend bis zum Bach hinunter. Etwa eine halbe Stunde kletterten sie bergauf. Dann verteilten sie sich, um Gras zu finden und zu sammeln.

Es war Mittagszeit. Wegen der Dichte des Waldes konnte niemand den anderen sehen. Emine rief laut, dass es Essenszeit war. Sie versammelten sich an einer kleinen, vorher festgelegten ebenen Stelle, an der sie ihre Dapana abgelegt hatten. Wieder in angenehmer Gesellschaft aßen sie ihr Essen und verteilten sich erneut zur Arbeit.

Am Nachmittag hatte jeder sein Gras geschnitten, gebündelt und die Last vorbereitet. Sie riefen sich von Weitem zu, um sich zu verständigen. Alle kamen zusammen und begaben sich mit langsamen Schritten auf den Rückweg. Der Aufstieg war einfach, aber mit einer Last auf dem Rücken den Berg hinabzusteigen war nicht so leicht. Deshalb mussten sie jeden Schritt kontrollieren, um nicht die steilen Hänge hinunterzurollen.

Einmal überquerten sie einen gefährlichen Pass am Rande einer Hunderte Meter hohen Felsklippe. Dieser Pfad war sehr eng und steil, ohne Sträucher zum Festhalten, mit ovalen Vertiefungen, die von den Fußspuren früherer Wanderer in den Fels getreten waren. Jeder, der diesen Weg nehmen wollte, musste in diese vorhandenen Fußabdrücke treten. Andernfalls konnte man abrutschen und in den Abgrund stürzen. Während alle ihre Freundinnen der Reihe nach diesen Weg passierten, stöhnte Fadime schmerzerfüllt und beklagte sich innerlich: „Was waren das nur für Menschen, unsere Vorfahren, wo haben sie nur diese verfluchten Orte zum Leben gefunden? Wir werden hier zugrunde gehen.“ Die Luft war sehr heiß und feucht. Sie trug eine schwere Last Gras auf dem Rücken und war außer Atem. Der Schweiß floss nicht nur von ihrer Stirn, sondern brach aus allen Poren ihres Körpers hervor. Gerade als sie sich weiter beschweren wollte, rutschte sie leicht aus. Sie wäre beinahe gestürzt. In diesem Moment fühlte sie sich, als würde sie vor Schreck sterben und wieder auferstehen. Ihr Herz schien ihr aus der Brust zu springen. Ihre Freundin Emine, die hinter ihr lief, bemerkte, was passiert war, griff ihre Last und half ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden. Beide erlebten einen Schockmoment, setzten dann aber den Weg fort, als wäre nichts geschehen. Dabei hätten beide in diesem Moment in den Abgrund stürzen können. Letztes Jahr war Tante Ayşe an derselben Stelle gestürzt, war den Abgrund hinuntergerollt und qualvoll am Ufer des Baches gestorben. Wer weiß, wie vielen Menschen dieser Pass noch das Leben gekostet hatte. Glücklicherweise hatten sie auch diesmal diesen schwierigen Weg unversehrt überstanden.

Als Fadime nach Hause kam, traf sie ihre Mutter vor der Tür. Ihre Mutter sagte zu ihr: „Geh, bring deine Last zum Merek und komm dann wieder her, wärme Wasser auf und wasch dich gut, heute Abend kommen sie, um um deine Hand anzuhalten!“ Fadime war für einen Moment schockiert. Sie zögerte. Sie fragte sich innerlich: „Wer kommt da so Hals über Kopf, um um mich anzuhalten?“ Dann ging sie, um ihre Last abzulegen.

Im Nebenzimmer des Hauses, unter der Bank, bereitete sie das Badezimmer vor, das mit einem Holzbrett abgedeckt war. Sie wusch sich mit Wasser, das sie im Kessel erwärmt hatte. Dann wartete sie voller Aufregung und Angst. Sie schämte sich so sehr, dass sie nicht einmal ihre Mutter fragen konnte, wer sie abholen würde.

 

 

Als Tante Hatice an die Zimmertür klopfte, rutschte ihr das Herz in die Hose. Die Tür öffnete sich, und als sie ihre Tante sah, war sie etwas erleichtert. Sie setzten sich nebeneinander. Die Tante gab ihr alle Details; der junge Mann, der kommen würde, um um ihre Hand anzuhalten, arbeitete in einer Fabrik in Istanbul. Er sei der Sohn eines ehemaligen Dorfbewohners, der dort lebte. Sie fügte hinzu, dass die Familie aus guten Menschen bestehe, der Schwiegervater verstorben sei und sie nur bei ihrer Schwiegermutter leben würde. Sie riet ihr auch, diesen Antrag unbedingt anzunehmen, um das Dorf zu verlassen und ein besseres Leben zu führen.

Und schließlich wurde Fadime mit einer überstürzten Hochzeit mit Mustafa verheiratet. Am Tag nach der Hochzeit versammelten sie sich auf dem Dorfplatz, um nach Istanbul aufzubrechen. Alle Freundinnen, Nachbarn und einige Verwandte von Fadime kamen, um sie zu verabschieden. Bevor das Auto losfuhr, umarmten sie sich innig, rochen aneinander und küssten sich. Einige weinten sogar, aber die unverheirateten Mädchen konnten sich nicht verkneifen zu sagen: „Möge es uns auch bald so ergehen.“

Die Zeit war gekommen, und das Auto fuhr los. Während das Auto über den Feldweg fuhr, saß Fadime auf dem Fensterplatz neben ihrer Schwiegermutter, die sie noch nicht kannte. Während sie von einer Seite zur anderen schwankte, begann sie, sich das Leben in Istanbul und das bequeme Leben, das sie dort führen würde, auszumalen.

Sie stellte sich ein Leben vor, wie sie es aus dem Fernsehen kannte. In einer komfortablen, sauberen Wohnung zu leben, neue Leute und Freunde kennenzulernen, mit ihrem Mann schöne Orte zu besuchen, einzukaufen, Hand in Hand am Strand spazieren zu gehen, vielleicht sogar im Meer zu schwimmen.

Schließlich erreichten sie den Busbahnhof in Trabzon. Sie kauften die Fahrkarten und nahmen ihre Plätze im Bus ein, als die Zeit gekommen war. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie in einem so großen Fahrzeug saß, und das erste Mal, dass sie in ein so weit entferntes Land reisen würde.

Nach fast zwanzig Stunden Fahrt erreichten sie Istanbul. Die Stadt war ganz anders als Trabzon. Die hohen Häuser gaben der Stadt eine besondere Atmosphäre. Es war das erste Mal, dass sie so viele Autos auf einmal sah. Einige fuhren in die eine Richtung, andere in die andere. Sie langweilte sich nicht, sondern beobachtete die riesige Menschenmenge mit neugierigen Augen. Die Bosporus-Brücke, die sie mehrmals im Fernsehen gesehen hatte, hatte eine unglaubliche Anmut. Als das Auto über die Brücke fuhr, war sie sehr aufgeregt. Unter ihr war das Meer, und ihr Herz war in der Kehle. Sie hatte die Klippen in ihrem Dorf unzählige Male überquert, aber das hier war etwas ganz anderes. Zum Glück konnte sie ihre Augen vom Meer abwenden und auf die andere Seite der Meerenge richten. Obwohl die Landschaft nicht so dicht bewaldet war wie in ihrem Dorf, war sie doch schön. Sie begann sich glücklich zu schätzen und dachte, dass sie eines Tages ihren Freundinnen im Dorf erzählen würde, was sie hier alles gesehen hatte.

Die Reise war zu Ende, und sie standen schließlich vor der Tür des Mietshauses, in dem sie leben würde. Fadime begann, ihre neue Umgebung mit neugierigen Augen zu betrachten. Sie dachte, dass dieser Ort den Trabzoner Vierteln gar nicht so unähnlich sei. Ihr Ehemann Mustafa trug die Koffer einzeln hinein. Bis er alle Koffer hereingebracht hatte, warteten die Schwiegertochter und die Schwiegermutter schweigend.

Sie war nun in ihrem neuen Zuhause, wo sie mit ihrem Ehemann und dessen Mutter leben würde. Die ersten Tage vergingen gut. Es war aufregend für sie, jeden Winkel ihres neuen Zuhauses zu erkunden, die Nachbarschaft und die Straßen kennenzulernen, wenn sie mit ihrer Schwiegermutter zum Markt ging, und die Gäste zu treffen, die ins Haus kamen. Als die Tage und Monate schnell vergingen, wurde sich Fadime ihrer wahren Situation bewusst. Sie hatte keine anderen Aufgaben als die Hausarbeit. Es dauerte nicht lange, bis sie sich wie eine Dienstmagd fühlte. Doch im Dorf war das anders gewesen. Sie hatte mit ihren Freundinnen unterhaltsame Gespräche geführt, gearbeitet, war müde geworden und hatte das Leben genossen. Hier begann sie, diese ständige monotone Existenz zu hassen. Die Tage zogen sich endlos hin, und sie fühlte sich gefangen. Tatsächlich vermisste sie ihre Freiheit, das verrückte und anstrengende Leben, das sie im Dorf geführt hatte. Doch es gab kein Zurück, und der Gedanke daran zerstörte sie. Die Gäste, die ins Haus kamen, waren meistens Freundinnen ihrer Schwiegermutter. Daher hatte sie noch keine gleichaltrige oder gleichgesinnte Person kennengelernt, mit der sie sich hätte anfreunden können.

Etwa ein Jahr nach ihrer Heirat starb ihre Schwiegermutter. Ihr Leben geriet erneut aus den Fugen. Obwohl die Schwiegermutter alt und ihre Schwiegermutter war, war sie in dieser großen Stadt ihre beste und engste Freundin gewesen. Deshalb war Fadime sehr traurig über den Tod ihrer Schwiegermutter. Andererseits freute sie sich aber auch, dass sie sich von nun an freier bewegen konnte und wegen des Todesfalls in ihr Dorf zurückkehren und ihre Freundinnen treffen würde. Die Leiche der Schwiegermutter wurde zur Beerdigung ins Dorf gebracht. So konnte Fadime in ihr Dorf zurückkehren, das sie lange vermisst hatte, und ihre Freundinnen treffen. Natürlich dauerte diese Situation nicht sehr lange. Ein paar Tage später kehrte sie mit ihrem Mann Mustafa nach Istanbul zurück. Mustafa machte sich sofort auf die Suche nach einer neuen Wohnung, da ihre Wohnung groß und die Miete teuer war. Da die Rente der Mutter, die von ihrem Vater stammte, nun wegfiel, konnte er die hohe Miete allein nicht mehr stemmen.

Schließlich mieteten sie eine Ein-Zimmer-Wohnung in einem Viertel und zogen dort ein. In dieser Nachbarschaft kannten sie niemanden. Auch kam kein Nachbar aus dem Mietshaus, um sie willkommen zu heißen. Mit der Zeit fühlte sich Fadime immer einsamer. Manchmal überkam sie eine unglaubliche Sehnsucht, und sie fühlte sich wie in einem Vakuum, lief in der Wohnung hin und her. Das Leben sollte nicht auf ein Haus beschränkt sein. Leben sollte nicht nur aus Essen, Trinken und Atmen bestehen. Sie bereute, das Dorf verlassen zu haben. Die Spaziergänge auf den Feldwegen, das Grasschneiden, das Tragen der Lasten und sogar das Überqueren der Klippen schienen ihr plötzlich so schöne und angenehme Erinnerungen zu sein. Was würde sie nicht alles geben, um ins Dorf zurückzukehren und dieses Leben wieder zu führen ...

Eines Tages begann wieder eine seltsame Sehnsucht an ihren Gehirnzellen zu nagen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie ging auf den Balkon, schaute den Menschen auf der Straße zu und dachte vergeblich: „Vielleicht finde ich ja durch Zufall jemanden, den ich kenne.“ Es war das erste Mal, dass sie sich inmitten einer solchen Menschenmenge so einsam fühlte. Sie ging wieder hinein und warf sich aufs Bett. Sie begann, sich ihre Freundinnen vorzustellen. Langsam wurde sie von einem Strom der Gefühle mitgerissen, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie begann zu weinen. Unter dem Einfluss ihrer Sehnsucht brach sie in Schluchzen aus. An diesem Ort, an dem sie gekommen war, um sich wohlzufühlen, begann ein Unglück an ihre Tür zu klopfen, das sie zuvor nie gekannt hatte. Im Dorf sprachen sie Romeika. Ihre Nachbarn, ihre Kindheitsfreunde, die sie liebten, die Jungen und die Alten – sie dachte an das Glück, mit ihnen zusammen zu sein. Sie erinnerte sich an ihr Dorf, ihre Hochebene und ihre Wälder; es gab einen riesigen Wald, den sie erkunden konnte, Bäume, unter denen sie im Schatten rasten und essen konnte, bunte Blumen, die sie bewundern konnte, und Vogelgezwitscher, dem sie zuhören konnte. Aber hier gab es nichts davon.

Sie verbrachte die Tage und Monate immer mit denselben Gefühlen. Nach langer Zeit machte sie ein paar Bekanntschaften. Aber niemand von ihnen hatte die Herzlichkeit ihrer Freundinnen aus dem Dorf. Beim Einfachsten, wie dem Muster eines Kreuzstichs, den sie stickte, konnte sie sich nicht richtig mit ihren neuen Freundinnen austauschen und die Freude am Miteinander nicht genießen. Keine Arbeit und kein Erfolg konnten ihr Herz streicheln, wie es im Dorf der Fall war. Und zu allem Überfluss fühlte sie sich immer minderwertig, weil ihre Muttersprache anders war und ihr Türkisch schlecht. Aus Sorge um das, was andere denken könnten, musste sie ihre Muttersprache Romeika verheimlichen.

Tage folgten auf Monate, Monate auf Jahre, bis Fadime eines Tages einen Sohn zur Welt brachte. Sie nannten ihn Ali. Fadime hatte nun eine gute Beschäftigung gefunden. Mit diesem Baby nahm ihre Einsamkeit ab. Von nun an würde sie sich um ihr Kind kümmern, Zeit mit ihm verbringen und es aufziehen.

Die Zeit mit Ali verging schnell; das Kind wuchs heran, kam in den Kindergarten und wurde ein Schulkind. Seine Mutter kümmerte sich immer um ihn, bereitete ihn für die Schule vor, brachte und holte ihn ab und half ihm bei den Hausaufgaben. Mit ihrem Kind nahm auch ihre Sehnsucht nach dem Dorf ab. Mit der Zeit dachte sie nicht mehr so oft an ihre Freundinnen im Dorf wie früher. Unterdessen, obwohl Ali mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft aufgewachsen war, war er zwischen zwei Welten hin- und hergerissen: der Dominanz des Türkischen auf der Straße und der Romeika-Sprache, die seine Eltern zu Hause sprachen. Ali wurde mit dieser Sprache vertrauter und begann, mehr Türkisch zu sprechen. Mit seinen Eltern sprach er ab und zu Romeika. Sein Vater warnte ihn: Wenn ein Gast aus dem Dorf da war, sollte er Romeika sprechen, aber wenn jemand draußen fragte, sollte er sagen, es sei Lazisch.

Eines Tages traf Fadime die Mutter von Alis Freund Hasan, Zeynep Hanım, und lud sie zu sich nach Hause ein. Zeynep Hanım nahm die höfliche Einladung an, wollte aber zwei Freundinnen mitbringen. Sie fügte sogar hinzu, dass eine der Frauen aus der Schwarzmeerregion stamme. Fadime freute sich über das Angebot. Sie dachte, dass die Frau aus der Schwarzmeerregion vielleicht aus einem der griechischsprachigen Dörfer stammen könnte.

Vor dem Tag des Besuchs machte sie sich an fieberhafte Vorbereitungen. Sie kochte ihre besten Gerichte und bereitete Desserts zu. Sie wollte, dass alles perfekt war.

An einem Freitagmorgen kamen die Gäste. Auch Fadimes Nachbarin Elif Hanım, die im Erdgeschoss wohnte und die sie schon seit Jahren kannte, schaute kurz vorbei. Aber als sie die vielen Leute sah, schloss sie sich dem Gespräch an. Die Gastgeberin, die zum ersten Mal so viele Leute in ihrem Haus sah, war in leichter, aber süßer Aufregung.

Eine von Zeynep Hanıms Freundinnen, Yeliz, war aus Malatya. Ihre andere Freundin, Hayriye Hanım, war aus Rize/Ardeşen. Nach einer kurzen Kennenlernrunde ging das Gespräch weiter. Fadime erinnerte sich an ihr schlechtes Türkisch und sagte sich: „Sprich so wenig wie möglich.“ Dennoch konnte sie ihre Nervosität nicht ablegen, wenn sie an der Reihe war. Aber wenn man ihre Sprachschwierigkeiten bemerken würde, würde sie, wie immer, die Schuld ihrer Muttersprache, dem Lazischen, geben. Als sie einmal in die Küche ging, fühlte sich ihre Nachbarin Elif Hanım berufen, den anderen eine Erklärung zu geben. Sie sagte zu den Gästen: „Fadime ist eine sehr gute Nachbarin, aber da sie Lazin ist, kann sie nicht so gut Türkisch sprechen, wie sie sollte.“ Hayriye Hanım, die wirklich eine Lazin war, freute sich darüber. Als Fadime zurückkam, sagte sie: „Mädchen Fadime, du sprichst also Lazisch? Ach, wie schön, ich auch!“, und wollte gerade etwas auf Lazisch sagen, als Ali, der draußen mit seinen Freunden spielte, an die Tür klopfte. Seine Mutter ging und öffnete die Tür. Kaum war Ali hereingestürmt, fing er außer Atem an, seiner Mutter etwas auf Romeika zuzurufen. Fadime war wie vom Blitz getroffen. In Panik drehte sie sich schnell zu ihrem Sohn um, schrie ihn an, um seine Stimme zu übertönen, und versuchte, ihn am Arm zu packen und wieder hinauszuschieben. Das Kind, das die Reaktion seiner Mutter nicht verstand, öffnete die Tür, weinte und murmelte auf Romeika, bevor es hinausging. Fadime fühlte sich schrecklich, ihr Gesicht entfärbte sich, und ihr ganzer Körper war schweißnass.

Hayriye Hanım war neugierig auf diese fremde Sprache. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit Lazisch. Sie fragte Fadime: „Was war das für eine Sprache, die ihr gesprochen habt?“ Fadime fing an, mit den Tellern auf dem Tisch herumzuspielen, um den Blickkontakt zu vermeiden. „Ich weiß es nicht, unsere Älteren haben uns gesagt, es sei Lazisch, also haben wir das auch geglaubt“, antwortete sie. Hayriye Hanım sagte: „Mädchen, das, was du sprichst, ist kein Lazisch.“ Dann fragte sie: „Ich habe gehört, dass in eurer Gegend Griechisch gesprochen wird. Ist das, was ihr sprecht, vielleicht Griechisch?“ Hayriye Hanım bestand eine Weile darauf, die richtige Antwort zu bekommen, die sie vermutete. Fadimes Widerstand wurde schwächer. Sie dachte, was auch immer passieren möge, sie müsse es jetzt zugeben: „Ja, das ist möglich, ich schätze, du hast wahrscheinlich Recht…“, sagte sie.

Nun änderte sich das Thema des Gesprächs, und es ging um Griechisch. Yeliz Hanım ergriff das Wort und sagte zu Fadime: „Mädchen, warum versteckst du deine Sprache? Ich weiß sie nicht, aber meine Älteren sprachen auch Armenisch. Ich wünschte, ich würde es auch können“, sagte sie, aber eigentlich wollte sie Fadime nur beruhigen. In diesem Moment sagte Elif Hanım spöttisch: „Ach was, eure Herkunft ist ja alle durcheinander“, und kicherte wie eine Hure, bevor sie in Gelächter ausbrach.

Obwohl Fadime nicht die erhoffte Reaktion erhalten hatte, fühlte sie sich vernichtend minderwertig, weil ihre Herkunft wahrscheinlich Griechisch war und sie als Lügnerin entlarvt wurde. Das Gespräch hatte seinen Reiz verloren, und sie wollte so schnell wie möglich allein sein.

Seit dem Tag, an dem sie in diese überfüllte Stadt gekommen war, war viel Zeit vergangen. Sie konnte sich nie an die Menschen gewöhnen. Sie wurde nie wirklich herzlich mit jemandem. Sie konnte keine ehrliche Freundschaft schließen. Sie musste zu denen, die sie traf und kennenlernte, immer Distanz halten. Wie eine beschämende Situation fühlte sie sich immer gezwungen, ihre Muttersprache zu verbergen oder zu lügen. Sie hatte noch nicht einmal die Vierzig erreicht, aber sie hatte die meisten ihrer Kindheitsfreundinnen vergessen. Wenn sie an Feiertagen ins Dorf ging, traf sie kaum noch drei oder vier Freundinnen. Viele waren entweder aus dem Dorf abgewandert oder hatten woanders geheiratet. Sie hatten sie wahrscheinlich auch vergessen. In dieser großen Stadt konnte Fadime nie wirklich herumlaufen, sich vergnügen oder mit jemandem scherzen, wie sie es wollte. Ihr ganzes Leben verging, indem sie von einem Loch zum anderen ging. Ihr Weg verlief nur zwischen Zuhause, dem Markt und zeitweise dem Kindergarten und der Grundschule. Ihre gesamte Produktion und Beschäftigung bestand darin, zu kochen, sich um den Haushalt zu kümmern und ihr Kind großzuziehen. Die restliche freie Zeit verbrachte sie damit, auf der Couch zu sitzen, durch TV-Sender zu zappen und Serien zu schauen.

Natürlich ist das nicht das, was Leben bedeutet. Fadime weiß das jetzt. Doch wirtschaftliche Mängel und das Leben in einem konservativen Umfeld erlauben keinen Lebensstil, der über dieses monotone Leben hinausgeht. Wie Millionen andere, die das Leben verpasst haben, wird auch Fadime aus dieser Welt scheiden, ohne ihr Leben wirklich gelebt zu haben. Die nächste Generation, die sie in dieser überfüllten Stadt aufzieht, wird sie wahrscheinlich vergessen. Zwei oder drei Generationen später wird es, abgesehen davon, dass sie vergessen wird, so sein, als hätte Fadime all diese Mühen nie durchgemacht, als wäre sie nie auf diese Welt gekommen, als hätte sie nie gelebt.


Dieser Artikel wurde 2015 von Leyla Çelik und Elif Yıldırım in dem Buch „Yeşilden Maviye“ (Von Grün zu Blau) bei Nika Yayınları, Ankara, veröffentlicht.